Europa vor dem Aus

Ein sehr ereignisreiches Jahr neigt sich dem Ende zu. Nur wenige haben gedacht, dass sich die Lage Europas im Vergleich zu 2014 noch weiter verschlechtern könnte. Damals vor zwei Jahren begonnen jene Katastrophen, die mittlerweile zu enormen Verwerfungen innerhalb der Europäischen Union geführt haben. Nun haben wir in diesem Jahr mit zwei schrecklichen Terrorattentaten in Paris, der Flüchtlingskrise, dem Aufkommen von demokratiefeindlichen Kräften sowie der ungelösten Euro-Krise eine Vielzahl an Auseinandersetzungen ungeahnten Ausmaßes. Auch Deutschland trägt mit seinen Alleingängen der letzten Zeit zum Anfeuern verschiedener Konflikte in der EU bei. Es mehren sich die Zweifel, ob die Europäische Union die nächsten zwei Jahre überleben wird. Spätestens 2018 könnte der europäische Traum enden.

Deutschlands Alleingang in der Flüchtlingsfrage

Für Menschen, die von außerhalb auf Deutschland schauen, muss dieses Land wie ein Geisterfahrer vorkommen. Anstatt die eigene Haltung zu überdenken, wird in Berlin das eigenmächtige Handeln in der Flüchtlingskrise nun mit dem Hinweis konterkariert, die europäischen Nachbarn mögen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Dass diese sich jedoch nicht in ihre inneren Angelegenheiten einmischen lassen, dürfte sich eigentlich von selbst verstehen. Umso erstaunlicher erscheint die Drohung aus Berlin, Zuschüsse aus den EU-Subventionskassen zu kürzen, falls betreffende Länder nicht auf die deutsche Linie einschwenken würden. Dabei war es die Bundesrepublik, die durch das zeitweilige Aussetzen des Dublin-Verfahrens, die Verschärfung der Flüchtlingskrise in Europa erst verursacht hat. Dieses überraschende Vorgehen Berlins Ende August 2015 war nicht mit den Nachbarländern abgestimmt, die nun gezwungen werden sollen, dem deutschen Weg zu folgen. Besser wäre es gewesen, für andere politische Haltungen Verständnis zu zeigen und miteinander in eine Diskussion einzutreten. Doch die Zeit der Diplomatie scheint vorbei zu sein. Stattdessen werden wieder Grenzkontrollen in zahlreichen Mitgliedsstaaten durchgeführt, um den ungeregelten Zustrom an Flüchtlingen einzudämmen oder Terrorverdächtige auszufiltern. Der Schengenraum ist damit aller Wahrscheinlichkeit nach am Ende und das grenzenlose Reisen innerhalb der EU gehört der Vergangenheit an.

Man bedenke angesichts der zögerlichen Haltung der Osteuropäer, dass es selbst in Deutschland mit der Integration vieler türkischstämmigen Gastarbeiterfamilien aus den 1960er und 1970er Jahren beileibe nicht zum Besten bestellt ist. In vielen deutschen Großstädten macht seit Jahren das Wort der Parallelgesellschaft die Runde. Nach Aussagen von Heinz Buschkowsky, des ehemaligen Bürgermeisters von Berlin-Neukölln, ist „Multi-Kulti“ keine Lösung. Selbst Merkel äußerte sich noch 2010 sehr kritisch zur und hielt den „Multi-Kulti-Ansatz“ für gescheitert. Dass nun Polen und die Slowakei Klage am Europäischen Gerichtshof wegen der geplanten Flüchtlingsverteilung eingereicht haben, erleichtert natürlich eine diplomatische Lösung sicher ebenso wenig. Das gegenseitige Verständnis für unterschiedliche Geschichte und Kultur oder für politische Sachzwänge der unterschiedlichen Mitgliedsstaaten scheint verloren gegangen zu sein.

Streit um den Grexit

Auch die Griechenlandpolitik hat die Europäische Union entzweit. Hier verlief der Riss zwischen den wohlhabenden Ländern des Nordens und den verschuldeten Staaten des Südens. Vor der Währungsunion 1999 konnten Länder wie Italien oder Griechenland einfach ihre Landeswährungen abwerten, um konkurrenzfähig zu bleiben oder Schulden abzuzahlen. Dies war durch die Teilnahme am gemeinsamen Währungsraum nicht mehr möglich. So entstanden relativ große Schuldenberge in den betroffenen Staaten. In Folge der Bankenkrise, die in den USA aufgrund fauler Immobilien-Kredite im Sommer 2008 ihren Lauf nahm, mussten zeitweise Griechenland, Zypern, Portugal, Spanien und Irland unter einen europäischen Rettungsschirm schlüpfen, der letztlich durch die Steuergelder der EU-Bürger finanziert wurde. Es war eine Umverteilung großer finanzieller Mittel, auch wenn ein Großteil hiervon bei den Banken landete (sonst hätte auch Athen keine Staatsanleihen mehr am Markt platzieren können). Die in den vergangenen Jahren überwiesenen Notkredite und Hilfen summieren sich allein für Griechenland bereits jetzt auf über 240 Milliarden Euro. Man kann sich sicher sein, dass nur ein Bruchteil von den betroffenen Ländern zurückgezahlt werden kann.

Dass auch ärmere Länder wie die Slowakei oder die baltischen Staaten für Kredite an Griechenland haften mussten, entfachte dort eine Diskussion, die sich nicht zuletzt auch um die innere Struktur der Europäischen Union drehte. Es war nur schwer, einem slowakischen Rentner zu vermitteln, dass das eigene Land an den finanzpolitischen Maßnahmen zur Stabilisierung Griechenlands teilnahm, obwohl dortige Ruheständler deutlich höhere Renten ausgezahlt bekamen. Trotz aller Zuschüsse und Rettungsschirme herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen Athens – besonders bei Besuchen von wichtigen EU-Politikern oder vor großen Wahlen. Die extreme Rechte (z. B. Chrysi Avgi) und Linke bekommen seit Jahren großen Zulauf und sitzen im Parlament des Ursprungslands der Demokratie. Die griechische Bevölkerung radikalisiert sich und Europa schaut zu. Dabei ist eine Beruhigung der Lage nicht in Sicht. Die Zweifel erhärten sich, ob nicht ein falscher Weg eingeschlagen wurde und ein Grexit besser gewesen wäre. Besonders die deutsche Politik wird für die eigene Misere verantwortlich gemacht. So wird in griechischen Zeitungen regelmäßig die „Nazi-Keule“ geschwungen. Statt Europa zu einen, haben die finanziellen Hilfspakete mit ihren von Athen zugesagten Reformen für Unfrieden auf dem Kontinent gesorgt. In Deutschland entstand beispielsweise aufgrund der „alternativlosen“ Politik der Bundesregierung in der Eurofrage die „Allianz für Deutschland“ (AfD). Ende 2015 steht diese Partei bei den Meinungsumfragen bereits bei ca. 10 %. Es fehlt im Land, das innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal von einer Großen Koalition regiert wird, an glaubhaften politischen Alternativkonzepten.

Konflikt um Ukrainepolitik

Es gibt aber noch weitere entscheidende Konfliktlinien in der EU zum Beispiel zwischen Ost und West. Dieser Konflikt ist besonders infolge der Ereignisse in der Ukraine mit dem Euromaidan und der Annexion der Krim durch Russland offen zutage getreten. Hier spielt besonders die Perzeption Russlands als potentieller Feind oder als strategischen Partner des Westens eine Rolle. Persönlich denke ich, dass Moskau ein Teil Europas ist und die Entwicklung des Kontinents auch maßgeblich durch das Wirken Russlands – im Guten wie im Schlechten – bestimmt wurde. Von daher teile ich die Ansicht vieler Deutschen, dass Russland ein strategischer Partner des Westens ist bzw. werden muss. In Polen, dem Baltikum oder in Tschechien ist dagegen die Erfahrung aus der Zeit des Kalten Kriegs noch sehr lebendig. Deswegen drängten im Zuge der Krimkrise vor allem die Staaten des ehemaligen Ostblocks auf Sanktionen gegen Russland, Unterstützung der ukrainischen Regierung und militärische Beistandsbekundungen.

Letztlich wurden die Sanktionen von der EU beschlossen, obwohl besonders in westeuropäischen Staaten die öffentliche Meinung hierüber geteilt war und die einheimische Wirtschaft unter dem Embargo Einbußen hinnehmen muss. Auch der NATO-Beschluss vom September 2014, dass jedes Mitgliedsland mindestens  2 % des Bruttoinlandprodukts für sein Militär ausgeben solle, muss im Lichte dieser Ereignisse betrachtet werden. Die osteuropäischen Länder haben seitdem aufgerüstet und sehen mit Sorge in die Zukunft, während in Westeuropa die Meinung vorherrscht, mit Russland einen Ausgleich herzustellen und wirtschaftlich mit Moskau stärker zusammenzuarbeiten.

Weitere Konfliktlinien in Europa

Darüber hinaus gibt es divergierende Interessen hinsichtlich einer europäischen FinanzpolitikAgrarsubventionen und Energieversorgung. David Cameron fürchtet eine zu strenge Kontrolle der Finanzströme oder eine Einschränkung der Allmacht der City of London. Das ist verständlich, denn Großbritannien erwirtschaftet – nach einem radikalen Umbau seiner Wirtschaft unter Thatcher – seine Staatseinnahmen zu einem ganz erheblichen Teil aus dem Finanzsektor. Ähnlich sieht es bei den relativ hohen Agrarsubventionen der EU aus, nur spielt hier Frankreich die Rolle des Bremsers. Die primäre Sektor besitzt im Land von Champagner und Austern noch eine deutlich größere Bedeutung als beispielsweise in Deutschland mit seinem vergleichsweise starken industriellen Sektor. Dabei sind die europäischen Agrarsubventionen Gift für die Landwirtschaft in zahlreichen afrikanischen Ländern (da afrikanische Produkte preislich nicht mithalten können) . Es ist überdies völlig unklar, ob es in absehbarer Zeit zu Neuverhandlungen kommen kann, denn weder Großbritannien noch Frankreich zeigen sich in diesen Punkten kompromissbereit. Bei der Energiewende verfolgt aber auch Deutschland eine sehr nationale Politik angesichts des Umgangs mit Atomkraft in europäischen Nachbarländern wie Polen, Frankreich oder Großbritannien. Sollte eine gesamteuropäische Energiepolitik tatsächlich wahr werden, könnten sich bei der Rolle regenerativer Energien Konflikte manifestieren.

Jeder gegen jeden

Zu dieser äußerst angespannten Situation kommt auch noch die geplante Volksabstimmung in Großbritannien hinzu, die für 2017 anberaumt wurde und über den Verbleib in der Europäischen Region entscheidet. Besonders die Partei UKIP unter Nigel Farage macht gegen einen Verbleib des Landes in der EU mobil. Da Großbritannien ein nicht unbedeutender Nettozahler in der Europäischen Union ist, der 2012 mit über 7 Milliarden Euro den EU-Haushalt finanzierte, würde ein Ende der Mitgliedschaft auch monetär spürbar machen. Andere Staaten zweifeln zwar nicht an ihrem Verbleib in der Europäischen Union sind aber in ihrer Existenz durch sezessionistische Gruppierungen bedroht. Besonders in Spanien und Belgien sind regionale Parteien spürbar erstarkt, die Kräfte ihrer Zentralregierungen binden und die dadurch Rückwirkungen auf die Europäische Union verursachen.

In Deutschland diskutieren derzeit nur wenige ernsthaft über einen Austritt aus der Union, obwohl ein Wettstreit der europapolitischen Ideen dem Land sicher gut tun würde. Im Unterschied zu fast allen anderen europäischen Ländern existieren unter der Elite offenbar hierzulande nur sehr wenige europakritische Vordenker, die öffentlich die EU oder die Politik der Bundesregierung kritisieren. Ist dies doch einmal der Fall, besteht die Gefahr, dass die Kritik als nationalistisch oder rassistisch abgetan wird. Nur wenige trauen sich abseits von AfD oder Pegida, ihre Meinung öffentlich zu vertreten. Durch die mangelhafte Auseinandersetzung steigt gleichzeitig der Druck im Kessel und Teile der Bevölkerung sieht sich bereits nach anderen Meinungsmachern um. Hat die Elite die Haftung mit dem Volk in großen Teilen verloren?

Schicksalsjahr 2017

2017 scheint das Schicksalsjahr Europas zu werden. Denn falls die Präsidentenwahl in Frankreich mit dem Sieg von Marine Le Pen endet oder die Abstimmung in Großbritannien in einen Austritt aus der EU resutiert, dürften die Schockwellen das europäische Kartenhaus spätestens 2018 in sich zusammenstürzen lassen. Dabei wissen die Verantwortlichen bei UKIP oder der Front National sehr genau, dass ihr Handeln ein Ende der Europäischen Union befeuern wird. Moskau und Washington würde wahrscheinlich das Auseinanderbrechen der EU, eines machtpolitischen Rivalen, nicht ungelegen kommen. Niemand kann ausschließen, ob nicht beide Großmächte in den internen Auseinandersetzungen Europas längst mitmischen.

 

 

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