Der Westen muss aufpassen, dass er bei der Vielzahl an radikal islamistischen Gruppierungen in Syrien und im Irak nicht die falschen Bündnispartner kürt. Dies ist besonders schwer, wenn man bedenkt, wie häufig sich Bürgerkriegsparteien zusammenschließen oder aber in neue Einheiten zersplittern. Auch die Beziehungen zwischen den zahllosen Rebellengruppen haben sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert. All dies kann eine taktische Maßnahme sein, um zu verschleiern, wer hier mit wem kooperiert. Auch die häufigen Namenswechsel weisen in diese Richtung.
Genese des Islamischen Staats
Ein Paradebeispiel für solche unübersichtlichen Entwicklungen ist die Entstehung des sogenannten Islamischen Staates, der aus al-Qaida im Irak (AQI) hervorgegangen ist. Abu Bakr al-Baghdadi, ein Nachfolger des getöteten Gründers Zarqawi, streckte im Sommer 2011 seine Fühler ins vom Bürgerkrieg verheerte Syrien aus. Dort gründete sein Abgesandter Abu Mohammed al-Jawlani, der zuvor im Irak gekämpft hatte, die al-Nusra-Front. Diese Terrorganisation war also ebenfalls eine Geburt von al-Qaida. Nach einem Konflikt über die Vereinigung des Islamischen Staates im Irak (des direkten Nachfolgers von AQI) mit der syrischen al-Nusra-Front kam es im Februar 2014 endgültig zum Bruch zwischen al-Baghdadi und der al-Qaida-Führung unter Aiman az-Zawahiri. Dies stellte einen enormen Machtverlust von al-Qaida dar. Zahlreiche Anhänger der al-Nusra-Front wechselten nun die Seite und so konnte der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS) – wie er sich jetzt nannte – große Gebiete des zerfallenen Staats unter seine Kontrolle bringen.
Von hier aus wurde die Eroberung des Iraks anvisiert, was letztlich nur eine Heimkehr in das Land ihres Ursprungs sein würde. Insgesamt muss man unbedingt festhalten, dass sowohl ISIS als auch al-Nusra Sprösslinge von al-Qaida sind und sich damit nur marginal in ihrer Zielsetzung, nämlich der Bekämpfung der Demokratien und der Errichtung eines salafistischen Gottesstaates, unterscheiden. Wenn man auch im Rückblick auf jüngste Ereignisse konstatieren muss, dass ISIS in Sachen Grausamkeit, Entmenschlichung und Fanatismus selbst al-Qaida in den Schatten stellt. Nicht auszudenken wäre es, wenn diese Organisation in den Besitz von ABC-Waffen gelangen würde (Die Welt – IS rekrutiert Experten für Massenvernichtungswaffen).
Tummelbecken zahlreicher islamistischer Organisationen
Doch auch bei den anderen, sehr zahlreichen islamistischen Parteien in Syrien ist Vorsicht geboten, da fast alle zu irgendeinen Zeitpunkt mit ISIS oder der al-Nusra-Front kooperiert hatten. So sind zum Beispiel die Islamisten der Ahrar al-Scham Teil der Islamischen Front und des Dschihadisten-Netzwerks Dschaisch al-Fatah. Wenn man sich weitere Mitglieder dieser beiden salafistischen Vereinigungen ansieht, fällt auf, dass sowohl die al-Nusra-Front als auch Jund al-Aqsa (eine Splittergruppe der al-Nusra-Front) unter dem Mantel von Dschaisch al-Fatah bis Oktober 2015 gegen das Assad-Regime vorgingen. Also liegt die Annahme nahe, dass es sich letztlich auch bei Ahrar al-Scham und vielen anderen islamistischen Gruppen um sehr gefährliche Einheiten mit faschistischen Tendenzen handelt.
Deswegen kann weder die Islamische Front noch die radikalen Dschihadisten von Dschaisch al-Fatah ein Partner des Westens sein, selbst wenn diese Bündnisse stark von Saudi-Arabien und Katar gefördert werden. Gelder und Ausrüstung gelangten auf diese Weise bis vor wenigen Wochen auch in die Hände von al-Qaida nahestehenden Terrororganisationen. Trotzdem hält Europa an der Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten fest. Auch der Westen – auf dies sei an dieser Stelle hingewiesen – hat mit der Unterstützung der Taliban gegen die Sowjets bereits einmal auf die Falschen gesetzt. Aber nicht nur diese Überlegungen sprechen gegen eine Kooperation mit dschihadistischen Kräften. Denn es ist nur schwer vorstellbar, dass radikal islamistische Parteien in einem Syrien nach Assad für Frieden, Gerechtigkeit und Ausgleich sorgen könnten. Trotzdem sollte man zumindest versuchen, einige von ihnen in einen demokratischen Prozess behutsam einzubinden.
Regionale Bündnispartner des Westens
Wenn sich Europa und der Westen zumindest einig sind in der Bekämpfung von al-Qaida (mit seinen syrischen Ablegern al-Nusra, Khorasan und Jund al-Aqsa) sowie des Islamischen Staates, dann sollte ebenso genau überlegt werden, auf welche Weise man mit solch zweifelhaften Verbündeten wie der Islamischen Front, der Freien Syrischen Armee oder den paramilitärischen Einheiten der Schiiten zusammenarbeiten will. Eine Kooperation mit schiitischen Paramilitärs wie der irakischen „Mahdi-Armee“ – die auch zunehmend mit den Peschmerga aneinander gerät – oder mit der Islamischen Front in Syrien würde nur weiter die interkonfesionellen Spannungen erhöhen und den Hass zwischen den Glaubensrichtungen schüren.
Im Kampf gegen ISIS sollte der Westen deswegen primär mit den irakischen Peschmerga, der syrischen YPG, jesidischen Selbstverteidigungskräften sowie mit den irakischen Regierungstruppen zusammenarbeiten. Besonders bei der irakischen Armee bedeutet das, erst einmal Aufbauarbeit zu leisten, damit ein ähnliches Fiasko wie im Sommer 2014 im Nord-Irak ausgeschlossen werden kann. Auch die grassierende Korruption sollte in den irakischen Streitkräften angegangen werden. Ein Sonderfall stellt die Freie Syrische Armee dar. Hier muss sehr genau hingeschaut werden, wen man unterstützt, denn die FSA besteht aus ganz unterschiedlichen Einheiten. Sollte sich aber die FSA in ihrer Gesamtheit von Dschaisch al-Fatah glaubhaft distanzieren, würde ich dafür plädieren, auch diese Bürgerkriegspartei auszurüsten.
Absprachen mit Assad
Dass man auch Absprachen mit der derzeitigen Regierung unter Baschar al-Assad treffen wird, ist vielleicht eine bittere Wahrheit (besonders für die USA). Assad ist zwar wahrscheinlich keine dauerhafte Lösung für das geschundene Land, aber er wird von Russland, Iran und der Hisbollah massiv unterstützt. Hier ist im Augenblick Realpolitik gefragt. Im Kampf gegen ISIS muss es zumindest einen Informationsaustausch über Ziele und militärische Bewegungen zwischen den syrischen Regierungstruppen und der Anti-IS-Koalition geben. Ebenso müssen dringend ein Waffenstillstand sowie ein Gefangenenaustausch zwischen den verschiedenen Fraktionen vereinbart werden. Denn erst dann können Streitkräfte am Boden erfolgreich gegen die islamistischen Terrorgruppen operieren.