Als ISIS im Sommer 2014 erstmals jesidische Dörfer im Irak eroberte, begann ein bis dato unvorstellbarer Horror und der lange Leidensweg dieser sehr alten, monotheistischen Religionsgruppe. Tausende starben bis heute durch Kampfhandlungen, Massaker und Vertreibung. Die Terrororganisation hatte den perfiden Plan, die Jesiden auszulöschen, indem man die Flüchtlinge im kargen Sindschar-Gebirge einfach verhungern und verdursten lassen wollte. Ein erschreckendes Spiegelbild des Massenmords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Die Bilder gingen um die Welt und entlarvten die Islamisten als skrupellose Mörderbande, die jegliche zivilisatorische Grenze hinter sich gelassen hat. Der geplante Genozid zeigte vor allem die Enthemmung und zunehmende Brutalisierung von ISIS, die ein Terrorregime aufbauen konnte, das selbst die nicht an Grausamkeiten arme Geschichte Tamerlans zu übertreffen scheint.
Die neuen Sklavenhändler
Mitte Oktober 2014 erklärte der „Islamische Staat“ das Jesidentum zu einer heidnischen Religion aus vorislamischer Zeit. Somit konnten gefangene Frauen und Mädchen nun legal in die Sklaverei verkauft werden. Die meisten Jesiden hatten nicht genug Geld, um das Lösegeld für ihre Familienangehörigen zu bezahlen, die noch heute als Sklavinnen in den Häusern ihrer neuen Herren vegetieren. Jeder kann sich denken, wie es ihnen wohl ergeht. Ebenso wurden Hunderte Schiiten, Alawiten, moderate Sunniten und Christen ermordet. Das Christentum, das in dieser Region eine fast 2000-jährige Geschichte hatte, endete – wohl für immer. Bilder von öffentlichen Kreuzigungen, Enthauptungen und Steinigungen werden immer Teil der kollektiven Erinnerungen bleiben. Der extrem grausame Tod bei einer Hinrichtungsart wie Kreuzigung nährt verständlicherweise die Wut der Hinterbliebenen auf die Täter, die solche Zivilisationsbrüche begangen haben. Es drohen Vergeltung und jahrelange Feindschaft. Das Tor zur Hölle wurde geöffnet.
Enthauptungen von westlichen Geiseln
Das Schlachten endete aber nicht mit der Ermordung der religiösen und ethnischen Minderheiten in ihrem Machtbereich. ISIS beantwortete die Luftschläge des Westens, die den Genozid an den religiösen Minderheiten zumindest teilweise unterbinden konnten, mit dem Köpfen von westlichen Geiseln. Dass viele dieser Geiseln nach Syrien oder den Irak gekommen waren, um der darbenden Bevölkerung zu helfen, spielte offensichtlich bei der Verhängung ihrer Todesurteile keine Rolle. Es begann mit James Foley am 19. August 2014, es folgten Steven Sotloff, David Haines, Hervé Gourdel, Alan Henning, Peter Kassig, Haruna Yukawa und Kenji Goto. Videos ihrer Ermordung stellte die Terrororganisation ins Netz, um weltweit Angst und Schrecken zu verbreiten. Als im Februar 2015 ein Video auftauchte, das die Verbrennung des jordanischen Piloten Muath Al-Kasasbeh zeigte, ging zwar in Jordanien ein Aufschrei durch das Land, der im Westen jedoch größtenteils verhallte.
Ägypten im Visier von ISIS
Dass die Barbarei der Islamisten nicht auf Syrien und den Irak beschränkt ist, zeigt sich ebenfalls im Februar 2015. In Libyen ließ ISIS 21 koptische Christen köpfen. Das Meer färbte sich rot vom Blut der Ermordeten, wie auf den Videos und Bildern vom Tatort unschwer zu erkennen ist. Immerhin reagierte Ägypten, von woher die Opfer stammten, mit Luftangriffen auf ISIS-Stellungen in Libyen. Mittlerweile war auch das Land am Nil zur Zielscheibe von islamistischen Terror geworden und besitzt mit dem Sinai eine Region, die nur in Teilen unter staatlicher Kontrolle ist. Europa zeigte dagegen bislang mit den religiösen Minderheiten in Nahost wenig Mitgefühl. Dabei weiß jeder, dass wir derzeit das Ende der Maroniten, Kopten, Jesiden und Aramäer in ihren Heimatländern erleben. Unwiederbringlich. Um das zu verhindern, wäre die Entsendung von Bodentruppen bereits vor mehr als einem Jahr nötig gewesen. Die EU-Politiker wollten aber dem Wahlvolk keine unbequemen Wahrheiten verkünden, stattdessen hoffte man vergeblich, dass ISIS den Westen in Ruhe lassen würde.
Die machtpolitische Lähmung Europas
Vielleicht sollten wir alle die schrecklichen Bilder ungefiltert ansehen müssen, vielleicht würde das die Lähmung, die Europa im Griff hält, überwinden. Heute frage ich mich, wer damals im Sommer 2014 nicht bereits begriffen hatte, mit wem man es hier zu tun hat. Eine diplomatische Lösung mag zwar bei vielen Parteien des syrischen Bürgerkrieges möglich sein, doch kann es mit al-Nusra und ISIS keine Verhandlungslösung geben. Letztlich war auch abzusehen, dass früher oder später die Gewalt und der Fanatismus auch nach Europa kommen würden. Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Die Vogel-Strauß-Politik muss endlich ein Ende nehmen, erst recht nach den Attentaten von Paris am 13. November 2015. Vielleicht wären diese Anschläge verhindert worden, wenn Europa früher auf die Gefahr reagiert hätte.