Der Nahe Osten steht am Abgrund. Doch auch wenn die gegenwärtige Situation demotivierend ist, es ist keineswegs zu spät gegenzusteuern. Eine Strategie muss her und das sehr dringend. Denn wie ein Krebsgeschwür haben sich islamistische Terrorzellen in Nordafrika und im Vorderen Orient ausgebreitet.
Boko Haram und al-Shabaab in Afrika
Es betrifft nicht nur ISIS oder die al-Nusra-Front – einen Ableger von al-Qaida – in Syrien und im Irak. In Nigeria gibt es mit Boko Haram eine Terrorgruppe, die sich mittlerweile ebenfalls ein eigenes Territorium im Norden des Landes erobert hat. Selbst das Nachbarland Kamerun ist vor Attentaten der Terroristen nicht sicher. Zahllose Menschen wurden in die Sklaverei verkauft, Frauen vergewaltigt und viele ermordet. Die Entführung von 276 jungen Mädchen im April 2014 hat zwar die Welt schockiert, eine Antwort wurde trotzdem bislang nicht gefunden. Und das obwohl die Kampagne „Bring back our Girls“ auch die Aufmerksamkeit von westlichen Medien erhalten hatte.
Die nicht weniger gefährlichen al-Shabaab-Milizen im Somalia beherrschen weite Teile des bitterarmen Landes und verüben Anschläge nicht nur am Horn von Afrika, sondern auch in Nachbarländern wie Kenia, in der Hoffnung weitere ostafrikanische Länder zu destabilisieren. Dass dabei eine wichtige Schifffahrtsroute entlang der somalischen Küste verläuft, gab dem Konflikt von Anfang an eine internationale Dimension.
ISIS in Libyen und Ägypten
In Libyen haben wir weitestgehend Anarchie: Berber-Stämme, die nicht mehr mit der Zentralregierung zusammenarbeiten, eine Gegenregierung in der Hauptstadt und ISIS, die mittlerweile in Sirte und Umgebung Gebiete unter ihre Kontrolle bringen konnte. Auf dem Sinai besitzt ISIS ebenso eine mit ihr verbundene Gruppierung, die den ägyptischen Staat herausfordert und von den Beduinen vor Ort unterstützt wird. Diese Splittergruppe war für die Explosion an Bord einer russischen Passagiermaschine verantwortlich.
Auch im westafrikanischen Mali reißt der Terror auch zwei Jahre nach der Intervention Frankreichs nicht ab. Hier ist eine mit al-Qaida verbundene Gruppierung aktiv. Die Zerstörung von zahlreichen Kunstschätzen, die zum UNESCO Weltkulturerbe zählten, wie das Mausoleum des Heiligen Sidi Mahmud oder die Ahmed-Baba-Bibliothek in Timbuktu offenbaren die Barbarei, die sich gegen ihr eigenes Land und dessen Geschichte richtet. Timbuktus Baudenkmäler, die Buddha-Statuen von Bamiyan, die Kunstschätze der Museen in Mossul oder die Ausgrabungsstätten von Palmyra und Ninive fielen bereits der Zerstörungswut des radikalen Islamismus zum Opfer, einer Zerstörungswut, die selbst vor der eigenen Kulturgeschichte nicht halt macht.
Taliban und al-Qaida in Afghanistan und im Jemen
Die Taliban und al-Qaida-Zellen in Afghanistan erleben derzeit einen zweiten Frühling. Die überraschende Eroberung von Kundus durch die Islamisten Ende September 2015 ist ein eindrucksvoller Beweis ihrer aktuellen Stärke. Große Teile des Landes sind an Terroristen verloren gegangen. Korruption lähmt die Regierungsbehörden. Die jahrelang Militärpräsenz des Westens scheint vergebens. Trotzdem zieht sich Europa und der Westen aus einem Land zurück, das bereits jetzt an der Schwelle zu einem „Failed State“ steht. Hätte die fortwährende Präsenz amerikanischer Truppen in Bagdad den Aufstieg von ISIS und den Fall Mossuls 2014 verhindern können? Ich denke, dass man das bejahen muss, vorausgesetzt es ist eine ausreichende Stärke an Soldaten vorhanden. Deshalb sollte man überlegen, dauerhaft westliche Kampftruppen, die eng mit den einheimischen Sicherheitsbehörden kooperieren, in Ländern wie Afghanistan zu stationieren.
Der Jemen versinkt seit 2004 zunehmend in Chaos und Bürgerkrieg. Ausgelöst durch einen Putsch der schiitischen Huthi-Milizen gegen die Zentralregierung, brach im Januar 2015 die staatliche Ordnung in großen Teilen zusammen und konnte sich auch dort al-Qaida und ISIS weiter ausbreiten. Saudi-Arabien und der Iran führen hier einen Stellvertreterkrieg um die Hegemonie in der Region – ähnlich wie im Irak und in Syrien. Die ohnehin schwierige Lage erschweren Sezessionsbestrebungen einzelner Landesteile (der Jemen in seinen heutigen Grenzen ist erst 1990 entstanden) und jahrelange Korruption und Vetternwirtschaft unter dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Salih. Jemen ist heute das Armenhaus der Arabischen Halbinsel.
Hisbollah und al-Nusra im Libanon
Zuletzt sei auch auf die prekäre Lage im Libanon hingewiesen, wo alawitische Anhänger Assads, ISIS-Terroristen, die al-Nusra-Front, Hisbollah und staatliche Stellen an der Schwelle zum offenen Bürgerkrieg stehen. Nicht auszudenken, was dies für die zahlreichen Minderheiten und syrischen Flüchtlinge bedeutet, die im Libanon leben. Eine massenhafte Flucht der orientalischen Christen, Alawiten, Drusen und anderer Glaubensgemeinschaften kann nicht ausgeschlossen werden. Dies würde die Türkei, Jordanien aber auch Europa vor immense Probleme in der Flüchtlingsfrage stellen. Auch Verwicklungen mit Israel, das die Ausbreitung von Terrorgruppen in seiner direkten Nachtbarschaft äußerst kritisch betrachten muss, sind sehr wahrscheinlich.
Das Versagen des Westens
Der Westen hat viel falsch gemacht seit dem schicksalshaften 11. September 2001. Die Entmachtung von Saddam Hussein hat die Region noch weiter destabilisiert. So nutzte al-Qaida kurz nach dem Einmarsch der USA und seiner Verbündeten die unübersichtliche und anarchische Situation aus und konnte sich dauerhaft im Zweistromland etablieren. Selbst die Ausschaltung von Abu Musab al-Zarqawi im Juni 2006 vermochte die Lage nicht nachhaltig beruhigen.
Erstaunlicherweise müssen die Geschehnisse im Irak fast als Blaupause für die Entmachtung Gaddafis und das Versinken Libyens in einen Bürgerkrieg angesehen werden. Der Westen besitzt – wie bereits in Afghanistan oder im Irak – einfach keine Strategie für einen langfristigen Aufbau der Länder und eine Nachfolgeregelung, die die unterschiedlichen Interessen im Land ausgleicht. Zwar konnten die Luftangriffe Frankreichs und Großbritanniens in letzter Minute ein Massaker durch Gaddafis Truppen in Libyen verhindern, doch wurde nach dem Sieg der Opposition das Land seinem Schicksal überlassen.
Lernen aus Libyen
Am 11. September 2012 kam es zu einem Attentat von Ansar al-Scharia auf die US-Botschaft in Bengasi, bei dem u. a. auch der Diplomat John Christopher Stevens ermordet wurde. Das nicht zur Ruhe kommende Land stand unmittelbar am Abgrund. Tatsächlich ist Libyen mittlerweile in verschiedene Machtblöcke zerfallen. Rückblickend muss man zynisch konstatieren, dass es der Bevölkerung selbst unter Gaddafi besser erging.
Im Unterschied zu Irak und Afghanistan hatte sich Europa und der Westen allerdings nicht in Libyen mit Bodentruppen engagiert. Man kann also auch nicht behaupten, dass es besser wäre, die Länder sich selbst zu überlassen. Das Hauptproblem ist meiner Meinung nach, dass man durchaus Bodentruppen in den vom Islamismus angegriffenen Staaten für eine lange Zeit benötigt, gleichzeitig man aber einen Plan braucht, wie man die Parteien im Land versöhnen kann und das Land möglichst schnell wieder aufbaut.
Ein Plan für Syrien nach Assad
Deswegen sollte der Westen und Russland sich vor einem Militäreinsatz gut überlegen, wer in Zukunft Syrien regieren soll und wie die divergierenden Interessen ausgeglichen werden. Die Entmachtung von Saddam Hussein oder von Muammar al-Gaddafi hat die Lage eskalieren lassen, weil es keine Nachfolgeregelung gab. Auch die Regierung von Hamid Karzai in Afghanistan oder von Nuri al-Maliki im Irak hat im Rückblick mehr geschadet als genutzt. Beide Regierungschefs scheiterten an einem echten Ausgleich im Land und förderten die Korruption in Kabul und Bagdad. Hier hätte sich eine föderale Struktur der betroffenen Ländern angeboten.
Unbedingt sollte vermieden werden, dass es zu einer Diskriminierung von Alawiten, Drusen und Christen kommt. Es besteht nämlich eine reale Gefahr, dass sich die syrische Opposition an ihnen nach dem Ende des Assad-Regimes rächen wird. Der Westen muss ebenso verhindern, dass eine neue, demokratische Regierung nur die Interessen einer Volks- oder Glaubensgruppe verfolgt, wie unter Nuri al-Maliki im Irak. Auch die Ausbreitung von Korruption und Vetternwirtschaft, denen in Afghanistan unter Hamid Karzai Tür und Tor geöffnet worden waren, muss strikt entgegen gewirkt werden. Ein neues Syrien muss eine unabhängige, wirtschaftlich erfolgreiche Demokratie werden und damit im Idealfall die gesamte Region stabilisieren.