Die Entstehung von ISIS – Eine Rückblende

Schon viel ist über den Einmarsch der amerikanisch geführten Koalition 2003 im Irak geschrieben worden. Zwar ist es unzweifelhaft eine militärische Glanzleistung des US-Militärs, innerhalb kürzester Zeit das Land vom Regime Saddam Husseins und seiner Baath-Partei zu befreien, doch bereits am Tag des Sieges der Alliierten kam es zu Chaos und Plünderungen in der irakischen Hauptstadt, die man heute nur als Vorboten für die weitere Entwicklung des Landes betrachten kann. Denn anstatt Irak zu einem Leuchtturm der Demokratie („Beacon of Democracy“) in der arabischen Welt zu verwandeln, versank das Land am Euphrat und Tigris in Anarchie, Chaos und sektiererischer Gewalt.

Die Auflösung der irakischen Armee

Der amerikanische Vorsitzende der Übergangsregierung, Paul Bremer, war es, der im Juni 2003 durch die Auflösung der irakischen Armee und das Verbot der Baath-Partei einen schwerwiegenden Fehler beging. Statt die bisherige Elite des gestürzten Diktators politisch einzubinden, fürchtete diese Bedeutungsverlust und ökonomischen Abstieg. Der Ausschluss von der Macht führte die ehemaligen Anhänger Saddam Husseins in Opposition zur noch jungen irakischen Demokratie. Viele Offiziere und Baath-Parteimitglieder gingen in den Untergrund, wo sie geduldig auf eine günstige Gelegenheit zur Rückkehr auf die politische Bühne warteten.

Die Gelegenheit sollte schon bald in Gestalt von al-Qaida im Irak (AQI) kommen. Im Oktober 2004 gründete Abu Musab al-Zarqawi, ein seit 2002 im Irak lebender Jordanier, diesen Ableger der berüchtigten Terrororganisation. Hier machte sich nun die militärische Ausbildung und Erfahrung von Saddams ehemaliger Elite „bezahlt“. Im Sommer 2014 würden sie schließlich ihren militärischen Sachverstand ISIS, einer Nachfolgeorganisation von AQI, zur Verfügung stellen, die dadurch im Irak durchschlagende militärischen Erfolge feiern konnte. Offenbar muss es gelungen sein, die Differenzen zwischen den säkularen Baathisten und den religiösen Fanatikern von ISIS – zumindest zeitweise – zu überbrücken. Ein Ereignis, das selbst die Geheimdienste für wenig wahrscheinlich gehalten haben müssen. Unter Saddam Hussein war noch jegliche Zusammenarbeit mit radikal islamischen Gruppen ausgeschlossen gewesen, die ja auch eine machtpolitische Gefahr für den relativ säkularen Diktator darstellten. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass eventuell auch eine tiefgreifende Wandlung dieser Offizierskader stattgefunden hat, manche hatten nach dem Sturz Saddam Husseins in irakischen oder amerikanischen Gefängnissen eingesessen.

Begünstigung der Schiiten durch Maliki

Da die von der Saddam-Clique unterdrückten Schiiten die Mehrheit der irakischen Bevölkerung stellten, war es vorhersehbar, dass bei demokratischen Wahlen die nächste Regierung des Landes von einem Schiiten geführt werden würde. Diese neugewählte Regierung unter Nuri al-Maliki beging im Nachkriegsirak den zweiten entscheidenden Fehler, indem sie gnadenlos ihre Volksgruppe begünstigte und sich nun an ihren Unterdrückern für jahrelange Verfolgung zu rächen versuchte. Arabische Sunniten hatten nämlich die herrschende Schicht im Irak von Saddam Hussein gestellt. Ein großer Aufstand der Schiiten in Folge des verlorenen Golfkriegs 1991 war äußerst blutig niedergeschlagen worden. Der Hass saß tief.

In Städten wie Tikrit – der Heimatstadt Saddam Husseins – Ramadi oder Fallujah, aber vor allem bei den sunnitischen Stämmen in der Mitte und im Westen des Landes sammelte sich schon kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner eine unzufriedene Koalition, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Nuri al-Maliki war nun aber gerade kein Mann des Ausgleichs trotz der zunehmenden sektiererischen Gewalt im Irak. Abu Musab al-Zarqawi, der einen Ableger von al-Qaida im Irak (AQI) anführte und der 2006 getötet wurde, muss in diesem Zusammenhang an erster Stelle genannt werden. Zarqawi war besonders darauf bestrebt, die konfessionellen Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten weiter anzuheizen. Bereits damals befürchteten viele, dass das Land vollends im Bürgerkrieg versinken würde. Dann schien es wieder so, als ob sich der Irak doch stabilisieren könnte.

Blitzkrieg im Schatten der WM 2014

Im Schatten des Sommermärchens, der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien, geschah das Unmögliche. Die Terrorgruppe ISIS eroberte am 10. Juni 2014 die Millionenstadt Mossul und innerhalb weniger Wochen zahllose weitere Städte im Irak. Niemand schien sie aufhalten zu können (oder zu wollen). Es war ein Alptraum, es wirkte fast surreal, so wie einst die Attacke auf die Twin Towers in New York.

Diese radikalen Vertreter eines Steinzeit-Islamismus hatte niemand auf dem Schirm gehabt. Im Rückblick ist es erstaunlich, dass Geheimdienste wie CIA, MI6 oder der BND offensichtlich keine Warnung in den Wochen vor dem Fall Mossuls ausgesprochen hatten. Ein massenhaftes Versagen der westlichen Geheimdienste. Auch die westlichen Medien hatten vor den Ereignissen im Sommer 2014 praktisch nicht über ISIS berichtet. Umso wirksamer waren die überraschenden Horrornachrichten.

Unterstützung von ISIS durch sunnitische Stämme

Jetzt rächte sich die irakische Innenpolitik der letzten Jahre, rekrutierte sich doch das Know-How von ISIS dank der Fehlentscheidung Paul Bremers maßgeblich aus alten Offizierskader der Armee Saddams. So half beispielsweise Izzat Ibrahim al-Douri mit seiner Naqshbandi Armee der Terrororganisation bei Eroberung von Tikrit. Selbst das hätte aber nicht gereicht, um den schnellen Siegeszug von ISIS erklären zu können. Erst durch die Unterstützung der sunnitischen Stämme konnten die Islamisten weite Teile Iraks kontrollieren, denn die von Mailiki übergangenen Stammesfürsten boten ISIS und al-Qaida Rückzugsräume, Soldaten, Ausrüstung und nicht zuletzt Legitimation. Im Spätsommer 2014 überstürzten sich die Ereignisse und zeitweise schien es, als ob sogar die Hauptstadt Bagdad fallen könnte.

Erst die Aufstellung von paramilitärischen schiitischen Verbänden unter Beteiligung des umstrittenen Geistlichen Muqtada as-Sadr konnte die Situation stabilisieren, nachdem sich zuvor fluchtartig die gesamte irakische Armee im Norden aufgelöst hatte oder zu ISIS übergelaufen war. Die Ausrüstung der irakischen Truppen, die von den Amerikanern stammte, fiel dabei ebenfalls in die Hände der Terroristen, die nun mit hochmodernen Waffen ausgestattet war. Die amerikanische Armee und ihre Verbündeten hatten, abgesehen von einigen Militärausbildern, den „Failed State“ bereits Ende 2011 verlassen. Ein Fehler, wie sich spätestens jetzt herausstellte, hätten doch amerikanische Bodentruppen den Fall Mossuls aller Wahrscheinlichkeit nach verhindern können.

Verhinderung eines Genozids

Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass auch die paramilitärischen Einheiten der Schiiten – besonders die sogenannte Mahdi-Armee – an zahlreichen Kriegsverbrechen beteiligt waren. Dennoch dürfte ihre Aufstellung und die wenig später einsetzenden Luftschläge einen Fall Bagdads verhindert haben, was natürlich die begangenen Verbrechen nicht rechtfertigt. Erfolge des irakischen Staates, der auch nach dem Sturz Malikis Monate brauchte, um sich halbwegs zu stabilisieren, ließen lange auf sich warten und gestalteten sich mühsam. Offenbar interessierte sich die mehrheitlich schiitische Armeeführung nicht für die von Sunniten besiedelten Landesteile. Stattdessen verkaufte so mancher korrupte Kommandeur der Terrorgruppe sogar neueste Waffen und Ausrüstung.

Man konnte also im August 2014 nicht damit rechnen, dass die irakische Armee die verfolgten Jesiden würde befreien oder schützen können. Um einen Völkermord in letzter Minute zu verhindern, erfolgten zumindest ab 8. August Luftangriffe einer US-amerikanisch geführten Koalition. Die kurdischen Peschmerga, die sich leidlich gegen ISIS behaupten konnten, wurden logistisch nun auch von der Bundeswehr unterstützt. Zu einer ernstzunehmenden Schwächung von ISIS kam es trotz aller Luftangriffe bislang nicht, auch wenn einige Städte zurück erobert werden konnten. Mossul, Ramadi und Fallujah blieben unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates, obwohl man in Bagdad großspurig angekündigt hatte, im Sommer 2015 Mossul befreien zu wollen.

Entsetzliche Massaker an religiösen Minderheiten

Man kann heute eigentlich nur schwer wiedergeben, welche Stimmung damals ob dieses „Blitzkrieges“ von einer nahezu unbekannten Terrorgruppe herrschte. Entsetzliche Massaker wurde von ISIS-Terroristen an Jesiden, Schiiten, moderaten Sunniten und Christen verübt. Die Welt war zunächst ratlos und schaute dem Treiben fassungslos zu. Es ist nur dem beherzten Eingreifen der YPG – dem syrischen Ableger der PKK – zu verdanken, dass die Jesiden in letzter Minute vor dem Völkermord gerettet wurden. Der YPG wurde dies später schlecht gedankt, führt doch heute die Türkei einen Feldzug gegen den PKK-Ableger in Syrien.

Seit 1,5 Jahren beherrscht ISIS weite Teile des Iraks und etablierte eine faschistische Schreckensherrschaft, in der kein Platz für Demokratie, Menschenrechte und Freiheit ist. Selbst gemäßigte Sunniten müssen im „Islamischen Staat“ um ihr Leben bangen. Finanzquellen eröffneten sich nicht nur durch die Eroberung großer Ölfelder und von Teilen der Staatsbank in Mossul, sondern auch durch die Enteignung von Jesiden, Schiiten und Christen sowie der Hehlerei mit antiken Kulturschätzen. Auch die Spenden großzügiger Geschäftsleuten aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Katar finanzieren die Terrorgruppe. Heute stellt ISIS eine der wohlhabendsten Terrorgruppen weltweit dar, die mit ihrer Barbarei und Grausamkeit sogar al-Qaida in den Schatten stellt. Eine Steigerung, die wohl niemand für möglich hielt.

Der syrische Bürgerkrieg weitet sich auf die Nachbarn aus

Der Ursprung von ISIS liegt im benachbarten, durch jahrelangen Bürgerkrieg daniederliegenden Syrien. Hier war es katastrophal gescheitert, Baschar al-Assad und seine Familie zu stürzen. Nun schwappte der syrische Bürgerkrieg auf sein erstes Nachbarland. Weitere Länder wie der Libanon, Jemen oder Libyen würden innerhalb nur eines Jahres folgen, wo die zum Teil selben Akteure um die regionale Hegemonie kämpfen. Auch ISIS konnte sich schnell auf diese gescheiterten Staaten ausdehnen und beherrscht in allen drei Ländern mittlerweile größere Gebiete (v. a. in Libyen).

Angespornt durch den Arabischen Frühling hatten in Syrien die demokratischen Kräfte letztlich versagt, den Diktator al-Assad zu stürzen, der das eigene Militär gegen die Demonstranten einsetzte. Es entstand ein sehr blutiger Bürgerkrieg, der zu einer de facto Teilung des Landes in zahlreiche divergierende Kräfte führte. Neben den Gebieten unter Kontrolle der syrischen Armee konnte ISIS vor allem im Osten des Landes große Geländegewinne erzielen. Neben der demokratischen Opposition und der Freien Syrischen Armee kämpfen auch kurdische Peschmerga sowie die radikale al-Nusra-Front, der syrische Ableger von al-Qaida, um Einfluss und Macht. Es stellt sich als schwierig heraus, in diesem Wirrwarr den Überblick zu behalten. Frontlinien sind fließend und können sich innerhalb weniger Stunden ändern. Bündnisse werden geschlossen und bald wieder gebrochen. Überdies betreiben zahlreiche beteiligte Mächte in Syrien ein doppeltes Spiel, das nur schwer zu durchschauen ist.

Kampf um die Hegemonie im Nahen Osten

Als wäre dieses Pulverfass nicht schon genug, mischen auch zahlreiche regionale und internationale Spieler in Syrien und dem Irak mit. Hier sind vor allem Saudi-Arabien, Katar, Iran, der NATO-Partner Türkei, Russland sowie die USA mit ihren westlichen Verbündeten zu nennen. Es findet ein äußerst blutiger Stellvertreterkrieg um Einfluss in der Region statt. Dabei besteht die große Gefahr, dass sich Krieg und Gewalt auch auf weitere Länder ausdehnen. Bereits im August 2014 kam es auf dem Golan an der Grenze zu Israel zu Kämpfen mit der al-Nusra-Front, die mehrere Blauhelmsoldaten der UNO als Geiseln genommen hatte. Ein Eingreifen Israels, das sich aktuell sehr zurücknimmt, dürfte die Situation noch weiter befeuern.

Hinterlasse einen Kommentar